Wir sind eine ehemalige Vollmacht und eine Lampe. Man könnte meinen, unterschiedlichere Dinge als uns gibt es gar nicht. Sie ist ein bedrucktes, bestempeltes und unterschriebenes Stück Papier und ich bin ein Beleuchtungsgerät, am besten für Schreibtische geeignet. Und doch haben wir ein gemeinsames Thema gefunden. Wir erinnern uns beide an die schwierigen Wohnverhältnisse in der Nachkriegszeit im Siegerland. Viele Wohnungen waren damals zerstört und die Ankunft vieler Menschen, etwa aus den ehemaligen ostdeutschen Gebieten, verschärfte die Wohnungsnot.
Unsere Perspektiven darauf waren allerdings sehr unterschiedlich. Die Vollmacht befugte den Amtsinspektor Wilhelm Fries, Wohnflächen leerstehender, aber auch bewohnter Häuser an die zwangsmigrierten Menschen zu vermitteln – ohne Mitspracherecht der Besitzerinnen und Besitzer. Die Vollmacht wurde also vorgezeigt, um Wohnraum zu beschlagnahmen.
Für die einen war das Zwang, für die anderen aber bedeutete es, nicht auf der Straße sitzen zu müssen. Wie bei meiner damaligen Besitzerin. Ich, die Lampe, hatte ihrem verstorbenen Mann gehört und so hatte sie mich mitgenommen, auf ihre Flucht vor der Roten Armee – ich war in ihrem Gepäcksack, als sie damals nach Weidenau kam und schließlich auch einer solchen Wohnung zugeteilt wurde.
Es war das Zimmer eines vermissten Soldaten. Und es sollte sich zeigen, dass sie mit dessen Eltern bald gut und lange über die akute Wohnungsnot hinaus zusammenlebte. Und so warf man mich auch nicht weg, als sie im Alter von über 80 Jahren starb. Nein, ich werde sogar, so sagt die Familie heute, „in Ehren gehalten,“ mittlerweile in vierter Generation.
Vor allem bin ich froh, der ehemaligen Vollmacht davon erzählen zu können. Denn sie erinnert sich natürlich nur an die Momente der Beschlagnahme. Sie hat nie miterlebt, wie auch gute Nachbarschaften, ja sogar Freundschaften daraus entstanden sind. Sie war kein gern gesehenes Ding. Sie trägt die Bürde, eben das getan zu haben, was wegen der damaligen Wohnungsnot – wohl oder übel – notwendig war.
Ich bin kein einzelnes Ding, ich bin ein ganzes Schloss, das Obere Schloss. Ich biete euch gerade Raum, Vollmacht und Lampe, und auch Ihnen, liebe Gäste, biete ich Raum, zum Umhergehen, zum Bleiben, zum Dasein. Ich mache das schon seit dem Mittelalter und immer mal wieder haben auch Menschen in mir gewohnt.
Über meine Baugeschichte und meine unterschiedliche Nutzung durch die Jahrhunderte informiert auch die Ausstellung „Das Obere Schloss: Baugeschichte gezeichnet“, in der Sie hier gerade stehen. Ihr aber, Vollmacht und Lampe, erinnert mich da an noch etwas: Nachdem ich 1905 ein Museum geworden war, richtete man bald auch Dienstwohnungen in mir ein. Und dann, als Siegen nach Kriegsende in Trümmern lag, funktionierte man einige meiner Räume, zeitweise, in Notwohnungen um. Für Menschen, die dringend eine Wohnung benötigten, wie die, von denen auch ihr berichtet.
Ich bin ja im Grunde ein Haus und darum habe ich all diese Menschen sehr gerne aufgenommen. Für uns Häuser gibt es nichts Besseres, als Menschen warm und trocken zu halten und sie zu schützen. Erst dadurch werden auch wir lebendig.
Aber das ist ja nun meine Perspektive als Gemäuer. So richtig hineinversetzen in die betroffenen Menschen kann ich mich nicht.
Können Sie das? Und glauben Sie, dass es heute im Fall der Fälle noch denkbar wäre, Menschen in die Wohnräume anderer Menschen zu vermitteln?